Leitlinien

Bundesweites Netzwerk – Beratung für Menschen mit erworbener Hirnschädigung

1. Die Lebenssituation von Menschen mit erworbener Hirnschädigung und deren sozialer Kontext

Hirnschädigungen führen häufig zu neurologischen, neuropsychologischen sowie neuropsychiatrischen Beeinträchtigungen. Sie gehen in der Regel mit psychosozialen Problemstellungen einher, durch die die betroffenen Personen und ihr soziales Umfeld stark belastet werden. Die bisherigen Lebenskonzepte aller Beteiligten werden in Frage gestellt, unter Umständen zerbrechen Partnerschaften und andere soziale Netzwerke. Häufig kommt es zu einer Veränderung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes.

Diese Situationen fordern von den betroffenen Personen, ihren Angehörigen und dem weiteren sozialen Umfeld eine enorme Anpassungsleistung. Phasen der Auseinandersetzung zwischen Hoffnung auf Wiederherstellung, Resignation, Hilflosigkeit wechseln sich ab. Diese Gefühle stehen häufig in Verbindung mit Schuldgefühlen und dem Erleben von Überforderung.

Bei vielen Menschen mit einer Hirnschädigung besteht nach dem Abschluss der medizinischen Rehabilitation ein weiterer Rehabilitations- bzw. Teilhabe-Förderbedarf.

2. Wer sind wir

Wir sind ein Bundesweites Netzwerk als Interessenverband von Beratungsstellen für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (MeH) und mitarbeitenden Personen in stationären und ambulanten Wohn-und Betreuungsangeboten, die in der professionellen Beratung für MeH tätig sind.

3. Unsere Zielgruppe:

– Personen, die von einer Hirnschädigung betroffen sind, unabhängig ihres Alters
– Personen des persönlichen sozialen Umfeldes der betroffenen Person
– Versorgungssysteme im Umfeld des Betroffenen
– Mitglieder des Beratungsstellen-Netzwerkes
– Weitere Beratungsstellen (wie z.B. die EUTB, Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung nach §32 SGB IX)

4. Was sind unsere Ziele:

– Wir stellen durch eine unabhängige Beratung die Förderung von Inklusion und Selbstbestimmung sicher.
– Wir unterstützen Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung bei der Führung eines möglichst selbstständigen, eigenverantwortlichen Lebens und entlasten somit ihre Angehörigen und die Sozialsysteme.
– Wir legen durch unabhängige Beratung einen entscheidenden Baustein für einen individuellen, erfolgreichen Teilhabeprozess.
– Wir machen gemeinsame Lobbyarbeit.
– Wir stellen unsere Qualität transparent dar.
– Wir tauschen uns interdisziplinär aus.
– Wir leisten Beratung aus einer Hand, im Sinne eines Case Managements.
– Wir arbeiten an der politischen Anerkennung und Finanzierung der Beratungsarbeit
für MeH im Sozialsystem.

Leitlinien für die spezifische Beratung für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und ihr soziales Umfeld

Die im Folgenden beschriebenen Organisationskriterien sowie das Kompetenzprofil können von jeder Beratungsstelle/jedem Träger individuell um ihr jeweiliges spezielles Beratungsangebot erweitert werden.

1. Adressatenorientierung

– Die Beratung richtet sich an Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und ihr Umfeld.
– Die ratsuchende Person in ihrer individuellen Situation steht im Mittelpunkt der Beratung.
– Die Beratung wird persönlich, telefonisch und online angeboten.
– Die Beratung wird barrierearm gestaltet.
– Sie ist für die ratsuchende Person kostenlos.

Die Beratung richtet sich an:

– Betroffene Personen unabhängig ihres Alters
– Personen des persönlichen Umfeldes einer betroffenen Person wie Angehörige,Bekannte, Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen sowie Kollegen und Kolleginnen
– Versorgungssysteme im Umfeld einer betroffenen Person wie gesetzliche Betreuer und Betreuerinnen, Pflegedienste sowie Therapeuten und Therapeutinnen
– Mitglieder des Netzwerkes

Adressatenorientierung durch:

– Neurokompetenten Umgang, Beratung und Kommunikation mit ratsuchenden Personen und Unterstützungssystemen auf Augenhöhe
– Barrierearmut und Niedrigschwelligkeit sowie leichte Zugänglichkeit
– Möglichkeiten für den Einsatz von Hilfsmitteln und unterstützter Kommunikation
– Empowerment und Peer Counseling
– Kontextorientierung
– Neutralität

Die Organisation der Beratung orientiert sich an folgenden Kriterien:

– Räumliche Voraussetzungen gewährleisten die Vertraulichkeit der Beratung
– Neben persönlicher Beratung (in der Beratungsstelle oder in einem Hausbesuch) werden Online-Beratung und telefonische Beratung einbezogen
– Ergänzung der Beratung durch Informationsmaterial in leicht verständlicher Sprache
– Zeitnahe Vereinbarung von Beratungsterminen
– Die Beratung kann eine Kurzberatung oder ein längerer Begleitungsprozess sein
– In Abstimmung mit der ratsuchenden Person werden bei Bedarf weitere Personen in den Beratungsprozess einbezogen
– Dokumentation der Beratungsergebnisse und gegebenenfalls Erstellung eines Handouts

2. Die Beratung

Unser Beratungsverständnis:
– Die Beratung ist psychosozial ausgerichtet.
– Die Beratung hat eine Lotsenfunktion im System.
– Die Beratung ist ergebnisoffen und lösungsorientiert.
– Die Beratung ist bedarfsgerecht und trägerübergreifend.
– Die Beratung ist durch Akzeptanz und Wertschätzung geprägt.
– Die Kompetenzen, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der ratsuchenden Person stehen im Vordergrund.
– Die Förderung von Teilhabe ist ein primäres Ziel.
– Transparenz und Vertraulichkeit bilden den Rahmen.

Unser Beratungsverständnis:

– Die Achtung der Würde der ratsuchenden Person
– Stärkung der ratsuchenden Person in ihren Kompetenzen und Ressourcen, in ihrer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung
– Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber der ratsuchenden Person und Respekt gegenüber ihren Entscheidungen und der Vielfalt von Lebensstilen
– Transparenz über Struktur, Inhalt, Ziele und organisationsbezogenen Auftrag
– Vertraulichkeit (die beratende Person unterliegt der Schweigepflicht und dem Datenschutz)
– Unterstützung bei Entscheidungsfindungen
– Förderung von Teilhabe und Inklusion
– Stärkung des Netzwerkes der ratsuchenden Person
– Tätigkeit im Rahmen der eigenen Kompetenzen, Vermittlung an andere Beratungsfachkräfte und Einrichtungen nach Bedarf
– Die beratende Person arbeitet mit regionalen Netzwerken zusammen oder baut diese auf

3. Die beratende Person

Die beratende Person bringt insbesondere folgende Kompetenzen mit:
Fachkompetenz:
-Wissen über Hirnschädigungen, über sichtbare und unsichtbare Beeinträchtigungen und über die Komplexität der Beeinträchtigungen
– Wissen über die Neurorehabilitationsphasen
– Wissen über die regionalen Strukturen und Angebote
– Wissen über das medizinische Versorgungssystem und Möglichkeiten der Rehabilitation
– (Grund-) Wissen über rechtliche Ansprüche
– Wissen über Stress, Belastung und Trauer
Beratungskompetenz:
– Kommunikation auf Augenhöhe und Verwendung angemessener Sprache
– Empathie; Akzeptanz und Echtheit
– Systemische Beratungskompetenz
– Bedarfsermittlungskompetenz
– Netzwerkkompetenz (Aufbau- und Zusammenarbeit in interdisziplinären Netzwerken und als Lotse im System)
– Bereitschaft zu Fort- und Weiterbildung

Die Fachkompetenz

Beinhaltet Wissen über:
– das Phasenmodell der Neurorehabilitation
– Störungen des Zentralnervensystems
– Krankheitsbilder, neurologische Störungen, typische sichtbare und unsichtbare Beeinträchtigungen und ihre Auswirkungen im Alltag
– Krankheitswahrnehmung und -verarbeitung
– Kompensationsstrategien
– Bedarfe nach Hirnschädigungen
– Grundkenntnisse im Sozial- und Leistungsrecht
– (Regionale) Versorgungsstrukturen (z.B. Therapeuten und Therapeutinnen,
Pflegedienste, Wohnberatung, Ärzte und Ärztinnen, medizinische und berufliche Rehabilitationsmöglichkeiten)
– die Rehabilitationsträger, ihre Zuständigkeiten und Leistungen
– Schnittstellenproblematiken
– Die ICF und das bio-psychosoziale Modell von Gesundheit
– Teilhabemöglichkeiten im Sozialraum (z.B. Freizeitangebote, Selbsthilfe, ÖPNV)
– Den Umgang mit traumatischen Ereignissen und psychosozialen Belastungen sowie Trauerarbeit
– Auswirkungen von Stress und Belastung auf soziale Systeme
– Systemische Ansätze
– Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf
– Entlastungssysteme

Die Beratungskompetenz

Beinhaltet Wissen über:
– Methoden / spezifische Beratungstechniken / Gesprächsführungstechniken
– Ansätze der Selbstunterstützung wie Empowerment (Stärkung von Kompetenzen und Ressourcen, der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und der eigenen Handlungsfähigkeit)
– Die Unterstützung bei Entscheidungsfindungen
– Die Entwicklung von Zukunftsperspektiven,
– Reflektionstechniken für die Selbstreflektion (des eigenen Handelns, der Werte und Einstellungen) und als Beratungstechnik
– Die Gestaltung der Beratungsbeziehung (Empathie, Authentizität und Akzeptanz)
– Angemessene und bei Bedarf barrierearme Sprache
– Bedarfsermittlung (wenn die Person dies selbst noch nicht benennen kann)
– Den Umgang mit schwierigen Beratungssituationen, Konfliktmanagement
– Die Gestaltung verschiedener Settings: Einzel/Gruppenangebote, Seminare, Projekte
– Den Einsatz technischer Hilfsmittel
– Die Bereitschaft zu Fort- und Weiterbildung
– Zusammenarbeit mit Peer-Beratern und Beraterinnen
– Prozessorientiertes Vorgehen
– Eine Netzwerkkompetenz /Lotsenfunktion der beratenden Person

4. Der Beratungsprozess in 10 Schritten

1

Beratungs- beziehung aufbauen

2

Anliegen klären

 

3

Gemeinsame Analyse der Situation

4

Reflexion anbieten

5

Entlastung anbieten

6

Informationen geben

7

Ziele und Lösungswege erarbeiten

8

Unterstützung bei der Umsetzung klären

9

Gegebenenfalls an andere Stellen oder Angebote weiterleiten

10

Beratungsprozess abschließen und dokumentieren

Autorinnen: Petra Möller / Christine Müller / Gabriele Stamm / Julia Tiwi (2016)

Literatur:

BAR, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (2015). Trägerübergreifende Beratungsstandards: Handlungsempfehlungen zur Sicherstellung guter Beratung in der Rehabilitation in der Fassung vom 1. November 2015. Verfügbar unter:
 https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/publikationen/empfehlungen/downloads/HETBStandar ds.web.pdf
[18.10.2017]

BAR, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (1995). Empfehlungen zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C. Verfügbar unter:
 https://www.bar- frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/publikationen/empfehlungen/downloads/Rahmenempf ehlung_neurologische_Reha_Phasen_B_und_C.pdf 
[18.10.2017]

Helene Maier Stiftung (Hrsg.) (2016) Sachbericht zum Projektabschluss (31.10.2016). Projekt: Perspektiven öffnen – Inklusion als Chance für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (MeH) Entwicklung eines mobilen Beratungsangebotes für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen. Verfügbar unter: http://www.helene- maier-stiftung.de/HMS_Abschlussbericht_Perspektiven_Oeffnen_2016.pdf
[18.10.2017]

Kamp, M. & Möller, P. (2015). Materialien Zukunftsworkshop 3. Treffen des Bundesweiten Netzwerk-Beratung für MeH. Nicht veröffentlichtes, internes Arbeitspapier.
nfb, Nationales Forum für Beratung (2014). Professionell beraten mit dem BeQu-Konzept. Instrumente zur Qualitätsentwicklung der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung. Verfügbar unter: http://www.forum-beratung.de/cms/upload/BQ/BeQu- Konzept.pdf
[18.10.2017]

Totzek, L., Kamp, M. & Alber, J. (2015). Positionspapier „Beratung“. Nicht veröffentlichtes, internes Arbeitspapier.